Durchs Schlüsselloch
Über den Dächern der Stadt lag eine beruhigende Stille, die Luft war kalt und klar, aus weiter Ferne hörte er erste Pendlerautos, die Sonne ging gerade auf.
„Was für ein krass kitschiges Rosa“, dachte Jascha beim Anblick des Horizonts.
Er hatte seit gestern Abend am Computer gezockt, die Zeit war wie im Fluge vergangen, er hätte nicht gedacht, dass es bereits Morgen war, als er die Balkontür öffnete. Jascha trat ans Geländer und atmete tief ein und aus. Endlich hatte er den Kopf frei, um an Toni zu denken.
Toni hatte rotes schulterlanges Haar. An und für sich wollte sie die Haare lang wachsen lassen, aber dann schnitt sie die fransigen Längen doch immer wieder ab. Sie musste selber darüber lachen. Toni lachte viel und laut. Sie war eher ein Mädchen zum Pferde stehlen, als eines, das auf Youtube MakeUp Tipps gab. Toni war klein. Wenn sie vor ihm stand, wunderte er sich jedes Mal, dass sie so viel kleiner war als er, viel kleiner, als in seiner Phantasie. Eigentlich mochte Jascha Toni sehr. Aber irgendwie passte ihm das gerade nicht so recht in den Plan. Er wollte für ein Jahr nach Australien gehen und Toni hatte nicht genug Geld, um mitzukommen und gleich für sie mitzuzahlen, wäre wohl übertrieben. Und dann war da noch Elif. Eigentlich war sie mehr sein Typ, war groß und schlank wie er selbst. Ihre Locken könnten Jascha ganz schön durcheinanderbringen.
„Triii-tri-tri-tiri-riiii!“ Jaschas Gedanken wurden von einem fordernden Tschilpen unterbrochen.
Überrascht drehte er sich nach rechts. Auf der Brüstung war ein kleiner Zeisig gelandet. Als Jascha einen Schritt auf das Vögelchen zu machte, plusterte es sein grün-gelbes Gefieder auf, schüttelte sich und sprang hinüber auf ein rotes Vogelhäuschen, welches an der Wand des Nachbarbalkons hing. Der Nistkasten war Jascha dort zuvor noch nie aufgefallen. Das Einflugloch war von einem massiven Schloss mit winzigem Schlüsselloch verriegelt. Erstaunt sah Jascha den Zeisig an. Erst jetzt bemerkte er, dass dem Vogel ein Auge fehlte, und dass er etwas in seinem langen schmalen Schnabel hielt.
„Ist das etwa der Schlüssel?“, wollte Jascha wissen. „Na komm schon du kleiner Kerl, gib mir den mal her.“
Jascha stieg vorsichtig auf den Nebenbalkon hinüber und streckte seinen Arm dem Vogel entgegen. Der Zeisig flog pfeilschnell auf Jascha zu, ließ etwas in seine Hand fallen und machte sich auf und davon. Reflexartig umschloss Jascha den Gegenstand mit den Fingern, dann öffnete er sie langsam.
Zu seiner Enttäuschung lag auf seiner Handfläche nicht etwa ein Schlüssel, sondern das dem Zeisig fehlende Auge. Er dachte einen Moment nach. Dann nahm er das erbsengroße Organ zwischen Daumen und Zeigefinger. Instinktiv hielt er es an das Schlüsselloch. Er kniff sein linkes Auge zu, sah mit dem rechten, leicht geöffneten Auge durch das Vogeläuglein hindurch…
Damit hatte er nicht gerechnet. Wie von Sinnen sah Jascha in einen Garten. Sein Blick wanderte weiter. Er sah in ein Haus. Er sah in eine Stadt. Er sah in Wälder. Er sah in das Meer. Er sah in die Winde. Er sah auf den Mond. Er sah in die Sterne. Er sah ins Nichts. Alle Dinge, alle Tiere, alle Menschen, jeder Stein, jedes Blatt, jede Zelle erschienen ihm in einem freundlichen Licht und erwiesen sich als durchlässig, warm, weich und sanft. Von guten Mächten wunderbar geborgen: Blumen in Gärten, Menschen in Häusern, Maschinen in Städten, Tiere in Wäldern, die Tiefen der Meere, Partikel in Stürmen, Mondgeröll, Lichtwellen, dunkle Materie – alle Wesen und alle Erscheinungen waren liebevoll miteinander verbunden. Jascha durchdrang alles und alles durchdrang Jascha. Er verspürte eine tiefe Zuneigung. Nie zuvor war er imstande gewesen, derartige Schwingungen zu empfinden. Ozeane tanzten. Löwen miauten. Schwarz und Weiß umarmten einander. Aus Weltgeräuschen stiegen kräftige Farben. Lautlose Galaxien zogen großzügige Kreise, ihre Bewegungen strichen über Jaschas Haut. Ein heiteres Wohlwollen war allgegenwärtig. Und Jascha, er war mit allem vertraut. Er brauchte keine Scheu zu haben, keine Angst, brauchte nicht mauern, völlig unbedenklich öffnete er sich einer friedlichen Luftigkeit.
Plötzlich fühlte sich Jascha so unbeschwert, dass ihm versehentlich das Vogelauge aus den Fingern glitt und zu Boden fiel. Jascha erschrak, hob das Organ behutsam auf und untersuchte, ob es zu Schaden gekommen war. Er war erleichtert, als er keine Delle oder gar einen Riss ausfindig machen konnte.
„Ach, das ist die Liebe also“, dachte Jascha.
Ganz anders, als er sie erwartet hatte, viel größer und schöner, als dass sie von einer Person allein bewältigt werden könnte. Unfassbar umfassend, genug für zwei.
„Toni!“, rief Jascha, „Sie muss unbedingt herkommen und mit mir durchs Schlüsselloch gucken. Die wird Augen machen!“
Eilig kletterte Jascha zurück, sprang in seine Wohnung und griff zum Telefon.
Ungeduldig malte sich Jascha aus, wie er Toni an das Schlüsselloch heranführen, ihr seinen Arm um die Schulter legen, das Äuglein zücken und sie bitten würde, von hinten durch die Linse zu schauen. Und dann: Garten, Haus, Stadt, Wälder, Meer. Die Winde, zum Mond, die Sterne, ins Nichts. Die Steine, die Tiere, die Menschen. Dinge, Zellen und Licht. Immer wieder spielte Jascha die Szene durch, während er die Digitalanzeige seines Weckers beobachtete. Am Telefon hatte er Toni gesagt, sie müsse sofort zu ihm rüberkommen, es ginge um alles und nichts. Vermutlich war es vor allem seine aufgebrachte Stimme gewesen, die Toni dazu brachte, sich aus dem Bett zu schälen.
Oh Mann, Toni, wo steckte sie bloß…
Als es an der Haustür klingelte, wurde Jascha mit einem Schlag unsicher. Hoffentlich würde sie nicht über ihn lachen, oder schlimmer noch, ihn für verrückt halten. Die Sache mit dem Vogelauge könnte womöglich ekelig rüberkommen und Toni ängstigen. Jascha entschied, seine Entdeckung vorerst für sich zu behalten.
Zögerlich öffnete Jascha die Wohnungstür. Toni war bereits auf dem nächsten Treppenabsatz angekommen. Verschlafen drängelte sie sich an drei Schulkindern vorbei, die sich gegenseitig mit vollbepackten Turnbeuteln bewarfen, während sie die Stufen hinunterschlurften.
„Puh, Jascha, jetzt mal raus mit der Sprache“, schnaubte Toni. „Warum scheuchst du mich in aller Frühe durch die Gegend?“
Von oben betrachtet wirkte Toni besonders klein. Ihre ungekämmten roten Haare leuchteten, ihre Augen funkelten Jascha auffordernd an. Toni stapfte in die Wohnung, schaute sich um, als würde sie die Antwort in einem Regal, auf dem Tisch, in einer Ecke vermuten. Sie ging weiter, setzte einen Fuß auf den Balkon, zögerte, hinaus zu treten.
„Toni, sag mal“, begann Jascha nach einer Weile.
Sie drehte sich um, stand im Rahmen der Balkontür. Das Gegenlicht blendete Jascha. Er setzte nochmal an:
„Toni, sag mal – zum Uluru. Ich meine den heiligen Uluru, Ayers Rock, dieses riesen Sandsteinding. Du weißt schon. Möchtest du da mit mir hinfliegen?“
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