Inventur
Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, ach, hier hab ich die Schere hingestopft. Was man grad nicht braucht… Hier mein Nähzeug zum Flicken, man weiß ja nie. In der Tüte von Netto scheinen sie nicht drin zu sein. Coline, nun guck doch nicht so. Vielleicht sind sie in der guten Stube, im Rewebeutel: Ah, da sind schon mal die Kekse von Bahlsen, die mit der Orangenfüllung drin. Die spar ich mir auf. Einen gibt´s nach der warmen Suppe am Abend, bis dahin ist noch ein weiter Weg. Oder willste nen halben, Mausi? Mausi? Wo is Mausi eigentlich? Coline, such die Mausi, Coline. Hast wohl heute Katzenjammer, na toll, dann nicht. Ich such ja, ich such ja. Henkeltasse, Becher, brauch ich wohl die Einwegschüssel noch? Is ein kleiner Riss drin, aber vielleicht zum Tauschen, der Detlef, der kann ja alles gebrauchen. Messi halt. So, nun noch mal von links an: In den drei Spardingern warense nicht. Oder, guck du noch mal Coline. Wechselwäsche, Kernseifen, nen Lappen zum Waschen, ie, der stinkt. Kann ja auch gar nicht trocknen bei der Nässe da draußen. Son Mist, das rosa Kissen vom Sofa aus der alten Wohnung, mit der hübschen Stickerei, hat auch was abbekommen. Vorsicht Coline, da nicht so drauf. Das wollen wir in Ehren halten. Das wird noch mal woanders gebraucht. In der sind allerhand Utensilien, Krimskrams, fürn Detlef interessant. Auch die zwei Bücher brauch ich nicht mehr. Ah, mein Guter! Da sind die Hundeplätzchen! Mein Feiner! Hier, warte, erst aufmachen, hier, haste zwei, sind ja recht klein. Mein Braver! Den Rest tun wir in die Rewetüte. Merk dir das mal.
Lass uns die Plünnen mal da inne Ecke schaffen, hintern Briefmarkenautomaten. Die Tüte mit dem Kissen kommt ganz hinten reingeklemmt. Risiko is immer. Ach, was soll´s, die Fresstüte kommt mit, Coline. Wär ich noch mal jung, dann würd ich das gelbe Posthorn klauen. Portofreie Briefe fordern. Oder besser: Die Beamten müssten lauter persönliche Sachen schreiben. Von Mensch zu Mensch. Die kriegen unsre Leute alle abgeliefert. Und überhaupt: Telekommunikation. Ich glaub, da passieren Sachen um uns rum, soweit können wir in diesem Leben nicht mehr denken. Da gibt es Welten, da kommste nur übern Bildschirm rein. Haste keinen, Pech gehabt. Schön Coline, uns interessiert das nicht. Mein kleiner Schnüffler. Jetzt lauf und schieb die Türen auf!
Noch ist es überall ganz leise, und alles sieht ganz leicht aus. Minusgrade, dafür aber noch recht milde. Mischwetter, das liegt an meinem Stimmungstief. Es hat die ganze Nacht geschneit. Wir stapfen in die Dunkelheit. Unter meinen Schuhen schmiert der Schnee zur Seite. Einsacken, hochschieben, einsacken, hochschieben. Coline, du siehst elegant aus, wie du schreitest. Ich dagegen stapfe und stapfe. Jede zehnte Flocke glitzert, weil ab und an Laternen in der Nähe sind. Dann werfen wir lange Schatten. Mal gehen sie vor, du, und mal kommen sie uns nach. Da brauchst du keine Bange haben. Wir beide bewegen uns durch ein einfaches Märchen, ohne viel Klimbim. Der ganze Scheißtrubel der Weihnacht ist endlich rum, die Baumskelette abgeholt. Und von Silvester sind nur ein paar rot-verschmierte Böllerenden liegen geblieben. Endlich kann der Winter seinen eigenen Zauber verbreiten. Unter null bilden die Flocken eine dicke Decke über allem, als wäre Gras gewachsen über den ganzen Quatsch, der so passiert. Und die, die trotzdem nerven könnten, schlafen noch in ihren Daunenbetten. Gleich gehen wir durch ne Seitenstraße, die is nicht beleuchtet. Stockdunkel da, aber wir wissen ja, das alles weiß ist. Das mag ich so. Da überkommt einen dieses komische Gefühl, wie wenn du zu lange den Mond anstarrst. Dann kannst du plötzlich gar nichts mehr glauben, von dem, was dir die Leute sagen. So was, wie „Wir sind zwar Freunde, aber ich kann dir leider nicht mehr weiterhelfen“, „Zwangsräumung ist angeordnet“, „Die Hausordnung hier sieht keine Hunde vor“. Das sind dann merkwürdige Gebilde in der Luft, in deinem Ohr, in deinem Kopf. Ich mein, da ist der Mond und sagt: Schau da vorn, da ist die Erde. Die, die drauf sind, sagen: Scheißdreck. Und der Schnee, der macht das Gleiche mit mir wie dieses zu lange Rübergucken. Da bild ich mir ein, dass alles offen ist: Die Karten sind noch nicht verteilt, das Regelwerk wird erst geschrieben werden, dem Chaos fehlt noch die Struktur. Und erst wenn wir beide, Coline, du und ich, wenn wir beide sagen, so jetzt kann´s meinetwegen losgehen, jetzt könnwa mal überlegen, wie sich das alles so gestalten könnte – dann geht´s erst richtig los! Machen wir uns nichts vor: Wir sind nicht von dieser Welt. Manchmal kann das Märchen böse enden, dem Meyer sind zwei Zehen abgefroren. Ich denk mir, ich lieb den Frost, krieg davon klare Gedanken, passe auf und trage warme Socken. Behandle dich selber stets wie einen wertvollen Gegenstand. Das sagte Oma immer, wenn sie sich Bommerlunder in ihr Schnapsglas goss.
Eben war´s noch zappenduster, nun siehste: Jeder kriegt Schneeschläge ins Gesicht. Mein linker Fuß tut wieder weh. Is nur ne Kleinigkeit. Komm mit dem Weg ins Kämpfen. Da vorn, vorm Karstadt lass uns mal zu Atem kommen. Mist, ich hab den Becher nicht dabei. Mit dem Geldverdienen is das sowieso ein vertracktes Ding, voller Spitzfindigkeiten und Mucken. Ja, Coline, hier, komm an meine warme Seite. Nee, das mit dem ganzen Geld, das hat sich einer ausgedacht, der keine Ahnung hat. Wie soll das funktionieren? Unsereinem geht es immer nur um Bares, anderen geht´s um unsichtbares Kapital. Da krieg ich die Pimpernellen. Mit dem ganzen Humbug wollen wir nichts zu tun haben. Das haben wir hinter uns.
Aus dem Nichts, da erscheint eine hochgewachsene Gestalt. Coline schau, direkt vor uns hält sie inne. Ein Mann in einem Lodenmantel. Trägt einen schmalen Lederkoffer in der linken Hand. Er wirkt phänomenal. Die andere Hand führt er souverän in seine Jackeninnentasche. Holt einen Fünfer raus und hält ihn an einem der vier Zipfel zu mir herab. Schau, diese glatte, rechtschaffene Hand. Gern würde ich die weiche Innenfläche berühren. Hab lange nicht mehr so was Schönes in meiner Pranke gehabt. Bestimmt ganz liebevoll. Muss mich nur trauen. Der Wind rüttelt eine Weile am Papier. Der Herr wirkt ungehalten. Die Nasenflügel zucken, der Rest bleibt ungewöhnlich starr. Was soll´s, ich streck sie ihm entgegen. Ein zarter Lichtstrahl blendet mich beim Blick nach oben. Am Schein vorbei, fast fühl ich schon die warmen Fingerspitzen. Da lässt er erschreckt los und schiebt die Rechte schnell in seine Seitentasche. Bin wohl zu weit gegangen. Der Fünfer wird vom Wind erfasst. Coline, ach lass doch, bleib. Das hat keinen Zweck. Is schon über alle Berge. Vielleicht ein Bänker. Genug gefaulenzt, Coline, das Leben is eh ne lange Pause.
Wir gehen weiter, da vorn kommt schon das Amt. Erhaben sieht der Kasten aus, wien Schloss, ragt in die klare Luft. Die dünne Schneeschicht betont die Formen. Wo hab ich denn den Wisch jetzt hingepackt? Inne Manteltasche? Nee. Ah, aber da is Mausi. Du kleine. Da bist du zugange. Wollt Coline ein Gedicht vorlesen. Mensch, der Wisch is abhanden geko…, ach nee, hier inner Hose. Hör mal, es heißt „Paragraph siebenundsechzig“: … sind Leistungen zur Überwindung von Schwierigkeiten zu erbringen, wenn die Berechtigte aus eigener Kraft hierzu nicht fähig ist ... Jetzt holen wir uns erstmal die zwölf Kröten ab.
Erstelle deine eigene Website mit Webador