Gedächtnispalast
Marcel saß nackt auf der Vorderkante seines grünen Veloursofas und rauchte eine Zigarette. Seine Knie berührten die Metallkante einer Teekiste, die als Stubentischchen diente, auf der ein Aschenbecher stand, zwei leere Coladosen, eine halb volle Dose Bier und eine ungeöffnete PET-Flasche Lindenblüten-Eistee. Tabakkrümel bildeten ein unwillkürliches Muster auf dem porösen Kistenholz. Marcel starrte auf einen 60 Zoll großen Flachbildfernseher. An sich völlig mit sich im Reinen, hatte Marcel nichts im Sinn, lediglich ein kleiner Drang nach einem Schluck Eistee schob sich hin und wieder durch die Leere seines Kopfes: Ob er die Flasche jetzt öffnen sollte? Aber dafür müsste er sich nach vorne beugen, ach…
„Was soll´s.“ Marcel gab sich einen Ruck und griff entschieden nach der Flasche. Er hatte eine Weile damit zu tun, den Drehverschluss von der verkanteten Lasche zu lösen. „Huch!“ Als er wieder zum Fernsehbildschirm schaute, war da dieser andere nackte Mann, älter, dicker und wesentlich behaarter als Marcel. Der hatte ihm einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Er war so unerwartet aufgetaucht, eben hatte noch eine freudig erregte Wäsche-Expertin Parfümkugeln in die Einfüllkammer einer Waschmaschine kullern lassen. Ob er irgendwann auch aussehen würde wie der? „Vielleicht ist das ein Zeichen“, dachte er, „eine Ermahnung von ganz oben.“ Marcel grinste.
Er nahm einen kräftigen Schluck, das Lindenblütenaroma kitzelte an seinem Gaumen und erfüllte seinen Mund- und Rachenraum mit einer angenehmen Süße. Dann zog er wieder an seiner Selbstgedrehten und zur blumigen Frische trat eine leckere rauchige Note.
Guter Dinge schritt der Andere nun einen schmalen Gebirgspfad entlang, der von grünen Gräsern umsäumt war und auf einem steinigen Felsvorsprung endete. Die Sonne blinzelte ihn an und ohne zögerlich zu sein, ließ er sich nach vorne in die Tiefe fallen. Plumps. Mit einem unsanften Überschlag landete er auf einem steilen Wiesenhang. Rutschte rücklings hinab, immer weiter und weiter nach unten, Backen, Brüste, Bauch, alles an ihm schlackerte im Fahrtwind, er genoss Geschwindigkeit und Reibung. Spürte lächelnd in sich hinein, im Rutschen strich er mit den Händen über das Gras, um es wahrzunehmen, um die Welt und sich zu empfinden. Alles ging ganz schnell und unvermittelt. Er schwamm mit starken Armschüben durch ein Meer aus Kieselsteinen, durchquerte schleudernd einen Bretterberg, Bauholzteile stoben in alle Richtungen auseinander. Ein rostiger Zimmermannsnagel bohrte sich in sein Gesäß. Aua. Doch unerschrocken ging die Reise weiter bergab. Bis er in einem Schlammloch stecken blieb, in dem eine Würgeschlange auf ihn wartete. Beherzt packte er das Biest und zog es aus dem Drecksloch. Schnitt. Verdutzt stand er in einer Baugrube in seinem Garten. Hielt eine knorrige Baumwurzel in der Hand und trug verschwitzte Arbeitskleidung am Leibe. Du lebst. Erinnerst du dich? Stand da in großen Lettern. Yippiejaja-yippie-yippie-yeah, erklang das Soundlogo.
Marcel wusste plötzlich wieder genau, wie es sich damals angefühlt hatte. Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Sofalehne fallen, zog die Fernbedienung aus der Seitenritze und schaltete das TV-Gerät aus. Er konnte sich nicht erklären, was es genau war, das ihn in diesem Augenblick auf jenen Trichter brachte. Ihn überkam ein ungutes Gefühl, eine bange Ahnung, etwas Bestimmtes verloren zu haben. Er biss sich auf die Unterlippe und zog die Augenbrauen zusammen. Hehehehe, hohohoho, egoegoego gogo… Ein vertrautes, wenngleich in Vergessenheit geratenes Lied nahm nunmehr seine ungeteilte Aufmerksamkeit ein. Es war nur in seinem Kopf und zunächst wollte er es verdrängen, aber je mehr er sich darum bemühte, umso aufdringlicher wurde dessen industrielles Pochen. Hehehehe, hohohoho, HirnlegoHirnlegoHirnlego LegoLego. Was wächst aus meinem Baum ääh meinem Kopf? Hohohohohol… Hauptsächlich konnte er sich an unzusammenhängende Passagen des Songtextes erinnern, undundundundundund dann… dabei besonders an jene Worte, welche die Melodie wie einen ratternden Zug vor sich hertrieben. Ohwehohwehohwehohwehohweh… hohohoho…
Marcel schloss die Augen. Da saß er mit Madleen in dieser Kellerbar. Beide tranken einen Hugo und rauchten Filterzigaretten. Es war ein milder Sonntagabend gewesen, eigentlich zu warm für die Jahreszeit, er freute sich, dass er seine leichte Lederjacke tragen konnte. Madleen hatte ihn spontan gefragt, ob sie sich nicht einfach mal wieder in der dunklen, gemütlichen Gruft treffen wollten. An einem Sonntagabend auszugehen, das hatte für ihn immer einen Hauch von Luxus gehabt, Freitag und Samstag waren normal, möglichenfalls auch mal an einem Donnerstag, aber sonntags, das war etwas Besonderes. Gut gelaunt hatte er sich auf den Weg gemacht. Was auch immer es war zwischen Madleen und ihm, es hielt schon fast drei Jahre.
Hehehehe, hohohoho… Was wächst aus meinem Baum ääh meinem Kopf? Hohohohohol… Bereits auf den schmalen Stufen, die ins Souterrain führten, waren ihm die rumorenden Klänge der Einstürzenden Neubauten entgegengekommen, und obwohl er ein Freund dieser Band und des Songs war, beide sogleich erkannte, überkam ihn eine seltsame Stimmung.
Marcel hätte nicht sagen können, welcher Barkeeper an jenem Abend Dienst hatte, ebenso wenig hätte er die Farbe der Barhocker oder gar die Poster an den Wänden nennen können, er vermochte auch nicht einzuschätzen, ob noch andere Gäste anwesend waren oder wie lange sie dort an der Theke gesessen hatten. Eine halbe Stunde? Kurz und schmerzlos, das wusste er noch. Oft war Marcel sehr beeindruckt davon, wie viele Wörter Madleen in kürzester Zeit aussprechen konnte, und manchmal ängstigte sie ihn damit auch. Madleen trug an diesem Abend einen weiten Pullover, dessen Ausschnitt sich ihr immer wieder über die linke Schulter schob, was sie wohl störte, denn sie zog ihn dann jedes Mal aufs Neue zurecht. Mit eindringlichem Blick hatte sie auf Marcel eingeredet. Was genau Madleen alles zu ihm sagte, ihm vorwarf oder wie auch immer, er hatte keine Ahnung mehr davon. Aber in diesem Moment war er ganz in jener Emotion gefangen, die ihn damals unverhofft getroffen hatte. Hehehehe, hohohoho… undundundundund dann… Während Madleen monologisierte, öffnete Marcel seine Ohren weit und griff mit ihnen tief in den Raum. Ho Ho Ho Hohol mir eine Axt – bitte… Er verschlang die schroffen Textzeilen aus dem Mund von Blixa Bargeld und ließ sie in Gedanken nachklingen.
Da war dieses eine Wort gewesen, das ihn irgendwie beschäftigt hatte. Ein Befreiungsschlag in einem Gesang voller Befehle, das eine Wort der Wörter, auf das alles zielte, was in den vorangehenden Strophen und danach genannt war. Es hatte Marcel in seinen Bann gezogen, ihm einiges an Denkarbeit abverlangt, um ihn daraufhin fasziniert zurückzulassen. Er wusste nicht sofort, was es zu bedeuten hatte. War das deutsch? Englisch? Aber die Band sang doch eigentlich in deutscher Sprache…
Im Nachhinein war er sich zumindest neunzigprozentig sicher, dass es ein mittellanger Ausspruch war, vielleicht in etwa zwei, drei, vier Silben. Fakt war ein ernsthaftes Dilemma: Das Wort fiel ihm nicht mehr ein. Leider war es eine von Marcels kleinen Schwächen, dass er weder ertragen, noch ignorieren konnte, wenn ihm etwas buchstäblich auf der Zunge lag. Die Stimme in seinem Kopf, die ihn meistens mit ICH ansprach, manchmal auch mit DU, forderte von seinem Unbewusstsein, das Wort offenzulegen. „Komm schon!“, dachte er, „in welchem Wulst, in welcher Furche hast du es vergraben?“ Irgendwo in diesem wabbeligen Ding, das aussah wie eine halbe Walnuss, in diesem ekelhaften Ding, durch das elektrische Blitze fuhren, und durch das sein Ich auf und ab ging, irgendwo da drinnen musste es sein… Je mehr er darüber nachdachte, wie er eigentlich nachdachte, umso komischer kam ihm das Ganze vor.
Marcel sprang auf. Das Licht der Standleuchte blendete ihn, in diesem hellen Schein fühlte er sich gleich besser und realer. Schnell griff er zum abgestandenen Dosenbier und trank es hastig aus. Im Stehen betrachtete er den schwarzen Fernsehbildschirm. „Du musst systematisch vorgehen“, dachte er, „akribisch jedes Detail unter die Lupe nehmen.“ Er würde sein Archiv durchforsten. Er schritt ins Schlafzimmer, um sich eine zerknitterte Boxershorts anzuziehen, die auf dem ungemachten Bett gelegen hatte. Er lief weiter ins Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Computer. Der musste erstmal hochfahren. Marcel hatte den PC nicht mehr genutzt, seit die Telekom am Montag mit einem vermeintlich groß angelegten Breitband-Ausbau begonnen hatte. Man hatte der Ortschaft Glasfaserleitungen versprochen, die 50 Megabit pro Sekunde transportieren würden, stattdessen lief es wohl auf Vectoring der alten Kupfer-Leitungen hinaus. Wie auch immer, der Verteilerkasten vorm Haus stand seither offen, verletzlich quollen Kabelbündel aus ihm heraus. An Datentransfer war ganz und gar nicht mehr zu denken. Für Marcel hatte das World Wide Web stets als zerebrales Außenlager hergehalten. Keinen uneingeschränkten Zugriff mehr auf alle Informationen dieser Welt zu haben, fühlte sich an, als leide er an einer irreversiblen Hirnschädigung.
Marcel legte seine Hand auf der Maus ab, gemeinsam konnten sie nun navigieren: Klick links, sie öffneten den Datei-Explorer, klick links, sie schoben den Cursor auf Musik-Bibliothek. Klack rechts, Ordner durchsuchen. Von den Einstürzenden Neubauten hatte Marcel jede Menge. Einige Live-Mitschnitte aus den Anfängen, Stahlmusik, Kollaps, Haus der Lüge, Die Hamletmaschine. „Mittels Druck und Körperwärme… wird aus unserer Konfusion… eine Kernfusion…“
Marcel spielte jeden Track an, den er in den Alben-Ordnern fand. Meist wusste er bereits nach den ersten Takten, dass er hier nicht auf die Lösung stoßen würde. Nach elf Alben, den Jahren 1980 bis 1989, kamen die Ordner, die jeweils nur eine Worddatei mit Track-Listen enthielten. „Oh nein, da war ja was!“ Marcel schlug mit der Maus auf den Glastisch. Er hatte bis vor zwei Jahren eine große Vinylsammlung besessen, 842 Exemplare aus den Bereichen Dark Wave, Industrial, früher Techno, auch ein paar Independentscheiben, sowie Klassik waren dabei. Und lange war sie sein ganzer Stolz gewesen. Zunächst hatte er die Platten nach Interpreten (A bis Z) sortiert, bald schon war ihm das zu banal vorgekommen. Die neue Reihenfolge richtete sich nach Stimmungslagen (melancholisch, traurig, verstimmt, zum Tanzen aufgelegt), später nach Coverfarben (hell nach dunkel). Irgendwann aber war Marcel der Ansicht gewesen, er müsse sich modernisieren und Ballast abwerfen. So hatte er damit begonnen, seine Tonträger zu digitalisieren. Mit einem Schallplattenspieler samt USB-Ausgang, dem Phono-Vorverstärker, einem A/D-Wandler und nicht zuletzt seinem leistungsstarken Computer war das kein Problem. Allerdings brauchte das Unterfangen mehr Zeit und mehr Geduld, als es Marcel angenommen hatte. So hatte er alsbald eine Pause eingelegt, das Weitermachen ein paar Male verschoben, bis er die Aufgabe vorerst von seiner Do-To-Liste strich. Das Hi-Fi-Grammofon und einige Platten wurden an Peter als Dauerleihgabe verliehen. Der Rest landete im Kellerverschlag bei seinen Eltern.
Marcel stellte sich sein Gehirn wie einen Computer vor: Da gab es diverse Ablagebereiche und regelmäßig führten Systembereinigungen dazu, dass Daten unwiederbringlich gelöscht wurden. Manche Infos musste er sich abermals beschaffen, Programme erneut installieren... In der Worddatei von 1993 fand Marcel einen Titel, bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das Lied handelte, in welchem sich das Wort verbarg. Eventuell könnte er jemanden in die Nachforschung einbeziehen.
Vergeblich schaute er im Schlafzimmer nach, ob sein Mobiltelefon auf dem Nachtisch lag. Marcel entsann sich: Das Smartphone war bei Peter, seit sie dort vor ein paar Tagen Fight Night Champion gespielt hatten. Marcel hatte sich so sehr in den Titelkampf im Schwergewicht hineingesteigert, dass er im Eifer des Gefechts aus den Augen verlor, seine Sachen durchzuzählen, ehe er Peters Wohnung verließ. Hätte er sie wie gewohnt gezählt, so wäre er auf drei gekommen (Haustürschlüssel, Übergangsjacke, PlayStation Boxhandschuhe) statt auf vier (Haustürschlüssel, Übergangsjacke, PlayStation Boxhandschuhe, Samsung) und schlussfolgern können, was in der 3er-Reihe fehlte. Immerhin hatte er seinen guten Freund in der achten Runde durch K.o. besiegt.
Da Peter für ein bis zwei Wochen nach Braunschweig gefahren war, - warum genau, da war sich Marcel nicht mehr sicher -, müsste er sich wohl oder übel gedulden. An diesem Umstand störte ihn im besonderen Maße, dass er alle Telefonnummern von Gleichgesinnten, die ihm aus seinem Wortschlamassel befreien konnten, auf seiner SIM-Karte gespeichert hatte: Peter, Frank, Ali, Katrin. Er kramte detektivisch in seinem Gedächtnis nach Namen von Personen, die in seiner Nähe wohnten und Bescheid wissen könnten. Andi? Nein, der hörte eher die Simple Minds. Natascha? Nein, wahrscheinlich Radio mit Populärmusik. Jetzt blieb nur noch ein Name übrig, der in Frage kam.
Okay, er würde Madleen anrufen. Marcel ging zurück in sein Arbeitszimmer und nahm das Festnetztelefon von der Station. Dabei bemerkte er, dass er noch nicht damit begonnen hatte, wichtige Kontakte in den internen Speicher des Geräts einzutragen. Glücklicherweise wusste er Madleens Nummer auswendig.
Sie ging auch gleich an den Apparat: „Ich dachte, du traust dich nie mehr, mich anzurufen!“ Madleen klang wütend und erleichtert.
Aber das war Marcel gerade relativ egal. „Du, Madleen, ich hab da mal ne Frage, hoffe, das irritiert dich nicht allzu sehr.“ Nach einer kurzen Pause sagte Madleen: „Ja, dann frag doch.“ „Mir fehlt ein Wort.“
„Äh?“
„Mir ist ein Wort abhandengekommen.“
„Welches Wort fehlt dir denn?“
Marcel bereute ein bisschen, ihre Nummer gewählt zu haben. „Weißt du, an dem Abend, als du mit mir Schluss gemacht hast…“ „Hab ich das wirklich?“, unterbrach sie ihn.
„Naja, du weißt schon, an besagtem Abend…“
„Da hab ich dir eine Frage gestellt.“
Marcel konnte sich an keine Frage erinnern und ihm war nicht danach, nun auch noch darüber nachzugrübeln. Also machte er einfach weiter: „Da liefen die Neubauten im Hintergrund, ich meine, es war die LP Tabula Rasa.“
„Na, das hätte jedenfalls gepasst.“ Madleen fand das wohl amüsant.
Marcel wurde ungeduldig. „Jedenfalls, da gibt es diesen Song, bei dem es irgendwie um Legosteine geht. Hohohohol… Was wächst aus meinem Baum -ääh- meinem Kopf…“
„Kann nicht kann nicht kann nicht anders andersanders“, ergänzte Madleen gelangweilt, „ja, ich weiß, welchen du meinst. Auch wenn ich mich beim besten Willen nicht entsinne, dass der da an dem Abend lief. Was ist damit?“
Marcel fiel ein Stein vom Herzen. „Puh, da bin ich jetzt echt froh!“
„Worauf willst du hinaus?“ Madleen reagierte misstrauisch. „Kannst du mir bitte sagen, was nach undundundundund dann… kommt? Irgendein Ausruf. Es muss ein Wort sein. Bitte, ich steh grad völlig aufm Schlauch.“
Er konnte hören, wie die Person am anderen Ende der Leitung schluckte: „Was ist denn los mit dir?“
„Madleen, es ist mir ernst, es geht wirklich nur um dieses eine Wort.“
Nach einer Pause sagte sie mit bemüht sachlicher Stimme: „Muss ich mir Sorgen um dich machen? Leidest du unter einer Wortfindungsstörung? Vielleicht hast du eine Schilddrüsenerkrankung, das kann dann schonmal vorkommen, die wird ja häufig zu spät diagnostiziert. Wann warst du denn das letzte Mal beim Arz…“
Marcel bemerkte, wie sich sein Gehör von Madleen entfernte, er fand sich selber unhöflich dabei, aber konnte nichts dagegen tun. Er war sich sicher, das Wort finge mit einem B an. Es klang so ähnlich wie ein amerikanischer Sänger. Bruce Springsteen? Bru…Brü…Bri… Nein, das war wohl nicht ganz richtig.
Einiges, was Madleen lauter und betonter aussprach, drang bedauerlicherweise zu ihm durch: „… sone App… in deinem Alter ungewöhnlich… früh beginnende Demenz… hat mir eine Health-App… manchmal genetisch bedingt… probier´s mal mit… Vitasprint-Kapseln… Sherlocks krasse Mnemotechnik… Burnout-Gefahr… ich hab da eine gute Resilienz-App… schick ich dir den Link in WhatsApp… vereinsamst… Tinder…“
Marcel reichte es: „Madleen, bitte. Weißt du, welches Wort ich meine?“
„Selbstverständlich. Aber ich werd´s dir erst verraten, wenn du endlich meine Frage beantwortest“, entgegnete sie schnippisch.
„Okay, okay. Ich war vor etwa zwei, äh drei Jahren das letzte Mal beim Arzt.“
„Diese Frage meine ich nicht.“
„Welche dann?“
„Denk mal an das Wörtchen: Zwiespalt.“ Klack. Sie hatte aufgelegt.
Zwiespalt? Das war auf keinen Fall das Wort, nach dem er suchte. Er hätte es wirklich besser bleiben lassen sollen, bei Madleen anzurufen. So eine Frechheit. „Zwiespalt! Absoluter Blödsinn!“, sagte er laut, „falls das ein sachdienlicher Hinweis sein sollte, war er nicht sehr hilfreich.“
Marcel stand am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute am Fahhradunterstand vorbei, über den Holzzaun, die Straße entlang, bis zu einer kleinen Baulücke auf der anderen Seite, dort konnte er den dämmrigen Himmel ausfindig machen. Immer wieder hatte Marcel die Vor- und Nachteile einer erneuten Kontaktaufnahme abgewogen, mit sich gehadert und es dann jedes Mal sein lassen. Das Gedankenkarussell drehte sich meist an lauen Abenden, vornehmlich sonntags. Da überkam ihn dann so ein sentimentales Gefühl. Dunkle Wolken mit leuchtenden Konturen zogen vorüber, eine nach der anderen verschwand hinter einem 12-Familienwohnblock. Er würde sie nie wieder anrufen, das stand fest. Es tat gut, diesbezüglich eine Entscheidung getroffen zu haben.
Er überlegte. Wenn Holmes einen kniffligen Fall zu lösen hatte, verschanzte er sich in seinem Mind Palace. Dort bewahrte er den Eindruck eines jeden erdenklichen Details auf, das er jemals wahrgenommen hatte. Da sich Marcel nicht als Genie mit überdurchschnittlich kognitiven Fähigkeiten einschätzte, würde er an die Sache ein Wenig anders rangehen müssen als der Held seiner und Madleens Lieblingskrimireihe. „Mach es zu deinem Projekt!“, sagte er laut. Er nahm seinen MP3-Player und den Tesafilm-Abroller aus der Schublade des Computertisches. Er wählte die Datei Instrumental Industrial. Dann befestigte er den Audio-Spieler mit drei Klebestreifen unterhalb seiner linken Brust und steckte sich die Kopfhörer in die Ohrmuscheln.
Marcel drehte sich um und ging in den Flur seiner 3-Zimmer-Wohnung. Er zog seine Unterhose aus. Dann faltete er sie diagonal zu einem langen Streifen, legte sie vor seine Augen und verknotete die beiden Enden hinterm Kopf. Die Augenbinde hielt jeden äußeren Lichtreiz von ihm fern, ein Umstand, der seinen Hör- und seinen Tastsinn schärfte. Manchmal brauchte er diese Dunkelheit, um sich auf seine Gedankengänge konzentrieren zu können. In absoluter Finsternis verschwammen die Grenzen zwischen Marcels Kopf und seiner Umgebung, auf diese Weise erschien ihm sein Gehirn viel größer und mächtiger. Er streckte die Arme zu den Seiten aus, atmete tief ein und stellte sich vor, wie sich sein Hirn ausdehnte, allmählich bis in die acht Ecken reichte, schließlich jede räumliche Beschränkung überwand. Was wächst aus meinem Baum ääh meinem Kopf?
Mit kleinen, taumeligen Schritten näherte er sich der Stelle, wo er die Eingangstür vermutete, verfehlte sie um einen Meter und tastete sich vor, bis er ihren Knauf erreichte.
Familie Seibert lebte in der Regel nach 19 Uhr zurückgezogen, spätestens ab 20 Uhr, wenn die Nachrichten den Fernsehabend einläuteten, war sie im Hauseingang nicht mehr gesehen. Yvonne Schubert, die ganz oben wohnte, war für ein Semester in Italien. Gefahr ging von Frau Lidow aus. Die Dreiundachtzigjährige bekam Essen auf Rädern, ein junger Mann von der Nachbarschaftshilfe kaufte zweimal pro Woche für sie ein. Eine zufriedene, wenngleich gelangweilte alte Dame mit schlechtem Gehör, die meist zuhause war und aufgrund ihres hohen Alters mit sehr wenig Schlaf auskam. Nicht auszudenken, dachte Marcel, wenn sie ihn ertappen würde. Der kleine Nervenkitzel stachelte ihn an. Er öffnete die Tür, betrat das stockdunkle Treppenhaus.
Hohohohohol … bitte… undundundundund dann: ??? Marcel fehlte jedes Gespür für die Beschaffenheit seiner grauen Zellen, sein inneres Auge wollte gern irgendeine Stelle lokalisieren, einen fixen Ablageort ausfindig machen, an dem das Wort versteckt sein könnte. Marcel schwebte vor, das Gehirn als Ort des Denkens nachzuahmen: So als trüge er eine Virtual-Reality-Brille, mit deren Hilfe er den Gang durch seine Hirnwindungen durchspielen könnte. Er war entschlossen, sich orientierungslos durch das Gebäude treiben zu lassen, wie es der Gedächtnis-Suchlauf im Inneren seines Kopfes tat. Mit diesem Experiment würde er seine Denkprozesse simulieren und schlussendlich dem vermissten Wort auf die Schliche kommen.
„Ein Fuß nach dem anderen“, sagte er sich. Jede Bewegung, die Marcel vollzog, beruhte auf Erfahrungswerten, die er im Kindesalter gesammelt hatte. Je mehr er den Erinnerungen seines Körpers vertraute, umso leichtfüßiger und ungehemmter kam er, gleich einem Betrunkenen, voran. Die Töne in seinen Ohren gerieten allmählich in einen hörbaren Bereich. Ansteigende Orgelklänge, ein kontinuierliches Scheppern, Neuronen feuerten um sich, schossen elektrische Impulse aufeinander, da gab es arbeitende Schmiedehämmer, Pressdruck von großen Maschinen, das Streichen feiner Seiten, ein langgezogenes Ziepen, verknüpfte Klackerlaute, ausgereizte Aktionspotenziale gaben Warnsignale von sich, ein Knallfrosch knatterte, Gitarrenriffe quietschten, ein Motor sprang nicht an. Marcels Herzschlag war bemüht, sich dem unregelmäßigen Takt anzupassen, so wie sein Gang dem Rhythmus entsprechen wollte. Die Geräusche verdichteten sich.
Auf dem ersten Absatz kam ihm eine Frau entgegen. Im Vorübergehen erkannte er Madleen. Ihr rechtes Auge war kleiner und länglicher als das linke. Von so nah hatte er sie lange nicht gesehen. Geheimnisvoll und wunderschön. Er wollte sie etwas fragen, aber ihre schmalen Finger glitten schnell über das Geländer und wiesen ihr den Weg aufwärts.
Marcel stieg weiter abwärts, die nächsten Treppenstufen knarrten. Er stoppte in einem verwinkelten Hinterstübchen. Licht fiel auf ein weißes Metallregal. Er suchte nach Wortschnipseln, nach einem Zettelkasten. War da denn nichts, kein Anhaltspunkt? Undundundund dann… Im Grunde war jeder Versuch, sich an etwas zu erinnern, eine Simulation bereits gewesener Ereignisse. Keine Wege, keine Fährten. Das Labyrinth der grauen Masse blieb unzugänglich. Blasse Bilder, Gerüche, Reize purzelten wie Puzzleteile auf ihn zu und bildeten eine Collage. Wo er auch entlang ging, er war immer mittendrin auf einer Art Bühne. „Mein Gedächtnis ist wie eine Kristallkugel“, Marcel spürte in sich hinein, „so eine wie sie von Wahrsagern verwendet wird.“ Die Kugel stand im rabenschwarzen Innenraum seines Kopfes, dank ihr konnte er sich an beliebige Orte denken, Gespräche wiederholt durchleben, Varianten fantasieren. Sie visualisierte schemenhafte Ausschnitte aus Vergangenheit und Zukunft. In dem Glas war immer genau das zu sehen, was von seinem Bewusstsein aufgefunden wurde. Mithilfe seiner Willenskraft konnte Marcel Erinnerungen in die Glaskugel hineinziehen, in ihr Gesichter, Szenen, Buchstaben, Zahlen wie einen Videofilm abspielen. Die Kugel war Medium aller Bild gewordener Gedanken.
Er trat zum Schrägfenster und schaute von innen durch die Augen nach außen: Tausende Lichtflecken tanzten, drifteten auseinander, formierten sich zu unfassbaren Zeichen, lösten sich auf und entstanden neu. Marcel ahnte, dass er im Stande war, den beschränkten Raum seines Kopfes zu überwinden und ihm Wege zu den Sternen offenstanden. Womöglich lag das Depot seines Denkens außerhalb der physischen Natur, und der Radius seiner Gedanken war weitaus größer, als er es bisher geglaubt hatte. „Ganz logisch“, dachte Marcel, „dass das nicht alles in den einen Schädel passt, all die Eindrücke, Rückschlüsse, Emotionen, Ideen, Ereignisse und Wörter – erstrecken sich bis tief in – aus der Galaxie zieh ich die Datenströme über Synapsen in die Kristallkugel rein.“ Diese Vorstellung ängstigte ihn sehr. Ohwehohwehohwehohwehohweh…
Die Wände änderten ihre Ausrichtung. Unter Marcels Füßen wurde Flur um Flur neu kartiert. Das wirkte sich auf den Verlauf aller Etagen aus. Die Gänge bogen sich zu neuen Routen. Madleen überholte ihn lächelnd, er heftete sich an ihre Fersen, bis sie schließlich hinter einer Ecke verschwand.
Ohne es geplant zu haben, erreichte Marcel seine Schaltzentrale. Hier wurde die Quelle des enormen Lärms sichtbar. Er konnte die Instrumente und Maschinenteile erkennen, welche für die auditive Grenzerfahrung verantwortlich waren. Marcel stieß auf seinen spitzfindigen Zensor, bis dato war er sein schärfster Kritiker, ein mieser Meckerer. Der hagere Mann trug ein schwarzes Hemd, unter dessen Kragenenden eine schlaffe Schleife zum Vorschein trat. Seine Augenlider betonte ein Kajal. Er schaute grimmig drein. „Der kommt mir bekannt vor!“, kam es Marcel in den Sinn. Jetzt, wo sie sich gegenüberstanden, schaute Blixa beschämt auf seinen Synthesizer. Mit dünnen Lippen berührte er ein hängendes Raummikrofon. Der Besserwisser murmelte: „Ich hatte ein Wort ein langes, selbstgezimmertes wie eine Rinne, mit Rädern, schmal wie ein Einbaum, oder etwas das Zement leiten soll… Irgendwer hat die Bedeutung mir verdeckt in einem Winkel ganz weit weg auch noch versteckt… Ich hab keinen Beweis… di di di… Lass das Wort Gestalt annehmen, Marcel, bring es in Form… Yippiejaja-yippieeee…“
Hier endete die Soundwiedergabe. Mit Verstummen der Musik brachen augenblicklich alle Eingebungen ab. „So ein Mist!“ Er tappte nach wie vor im Dunkeln. Angesichts der abrupten Stille überkam Marcel ein Gefühl von Verlassenheit. Er wollte diesen unangenehmen Zustand abschütteln und beeilte sich, voranzukommen.
Die Kellertreppe war aus sehr kaltem Beton, Marcel zog seine Zehenspitzen ein. Sie führte ihn steil in die Tiefe und machte im letzten Drittel eine Biegung, an die er überhaupt nicht dachte. Bums – stieß er sich den Kopf an einem Wandvorsprung. Er geriet ins Straucheln, stolperte zwei Stufen hinunter, suchte Halt.
Der erste feste Gegenstand, den er zu packen bekam, war nicht montiert, so dass Marcel ihn mitriss und – plumps – zu Boden fiel. Marcel betastete das Ding. Es war keilförmig, etwa zwanzig Zentimeter lang und verfügte über drei Seiten: Eine gebogene mit unregelmäßigen Rillen, zwei gleichförmige mit rauer Struktur. „Ein Holzscheit“, sagte Marcel. Er nahm die als Augenbinde ausgediente Hose ab, ließ sie liegen. Er stand auf, drehte den Schlüssel der Tür zum Garten und nahm das Stück Holz mit hinaus. Von welcher Dauer war sein Aufenthalt im Treppenhaus gewesen? 10 Minuten? Eine halbe Stunde? Viel länger? Marcel wusste es nicht. Draußen wurde es bereits hell, die Morgenröte kam ihm entgegen. Streng genommen war der Garten nichts weiter als ein kleiner Hinterhof mit Rasenresten. Marcel stellte sich in die Mitte der vernachlässigten Grünfläche, hob den Scheit über seinen Kopf, streckte sich und betrachtete das Fundstück detailverliebt von allen Seiten.
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